Good Practice

Früher war nicht alles besser

Ein Beitrag über die älteste (west)deutsch-polnische Schulpartnerschaft
Gruppenbild_Hannover-Posen

Die Schulpartnerschaft zwischen der Bismarckschule in Hannover und dem V.Liceum in Posen/Poznań feiert diesen Herbst ihren 35. Geburtstag. Ein Blick ins Archiv, Erinnerungen an Kommunikation ohne Internet und Telefon, und ein Gespräch mit Lehrer Ulrich Wehking, der die Schulpartnerschaft vor 23 Jahren „geerbt“ hat.

Eine September-Woche mit vielen Meetings und einem phänomenalen Sommerwetter, als wollte es seine Sympathie mit unserem kleinen Jubiläum bekunden – so beschreibt die Bismarckschule auf ihrer Website den Jubiläums-Austausch. Und wird sogleich politisch:

„Was Anfang der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts, als noch Mauern und Stacheldraht die Mitte Europas durchzogen, von engagierten Menschen auf beiden Seiten gegen viele Widerstände erstritten wurde, konnte von anderen Kolleginnen und Kollegen in einem politisch günstigen Klima ohne Unterbrechung bis heute weitergeführt werden. Es gilt, diese Schülerbegegnungen weiterhin zu ermöglichen, gerade jetzt, wo in Europa verengtes nationales Denken und alte Vorurteile fröhliche Urständ feiern und neue Grenzzäune errichtet werden.“

Ulrich Wehking

Seit 23 Jahren ist Ulrich Wehking an der Bismarckschule in Hannover mitverantwortlich, seit 1999 hauptverantwortlich für die Schulpartnerschaft mit Posen. In der Zeit habe sich nicht nur auf politischer Ebene viel getan: Die polnischen Schüler*innen können sich heute finanziell mehr leisten, und auch die Kommunikation sei einfacher geworden, so der Lehrer für Latein und evangelische Religion:

„Ich kann es mir selbst nicht mehr vorstellen ohne Internet. Aber beim ersten Mal, als ich den Austausch mitorganisiert habe, hatten wir zunächst auf polnischer Seite keinen Ansprechpartner mit Telefon! Wir haben uns also Briefe geschrieben und immer zwei Wochen gewartet, bis eine Antwort kam. Schließlich kam zum Glück noch ein Faxgerät zu Hilfe.“

„Internationale Herausforderungen“

Unter dem Titel „Internationale Herausforderungen. Die Bismarckschule Hannover stellt ihre UNESCO-Arbeit vor“ erschien 1992 eine Broschüre, in der die Anfänge des Schüleraustauschs mit Posen geschildert werden. Zu dem Zeitpunkt lag die erste Begegnung immerhin schon neun Jahre zurück: „Die Partnerschaft der Bismarckschule und des V.Liceum ist mehr als ein Schüleraustausch zwischen deutschen und polnischen Schülern. Sie ist einbezogen in die Städtepartnerschaft der beiden Messestädte Hannover und Poznan“, ist dort zu lesen. Begegnungen im Rahmen der Messen machten hierbei den Anfang: „Aus geschäftlichen wurden freundschaftliche Kontakte.“

Schon 1979 wurde der Partnerschaftsvertrag zwischen den beiden Städten unterzeichnet – einfach ist das damals nicht gewesen: „Die bestehenden Hemmnisse waren im wesentlichen politischer Art. Es waren sowohl innen- als auch außenpolitische Gründe, die die polnischen Behörden bewegten, äußerst zurückhaltend in Fragen eines Schüleraustausches zu sein.“ Trotzdem gelang es, den Schüleraustausch zwischen den beiden Schulen in das „Austausch- und gemeinsame Arbeitsprogramm“ einzubeziehen.

„Ein gravierendes Problem war die Unterbringung. Es wurde vereinbart, dass die Gruppen jeweils in einer Jugendherberge oder einem Jugendheim wohnen sollten. Dies war damals unumgänglich, da die Unterbringung der deutschen Schüler von der polnischen Seite als schwierig angesehen wurde aufgrund der oft zu kleinen Wohnungen. Der eigentliche Grund waren aber die starken grundsätzlichen Vorbehalte einiger Kreise in Polen, die durch die Unterbringung im Jugendheim beschwichtigt wurden. Unser Ziel war aber von Anfang an der echte Austausch, das heisst: auch das Wohnen in den Familien der gastgebenden Schule.“

Dass die ersten Aufenthalte ganze zwölf Tage dauerten, erstaunt Ulrich Wehking: „Selbst als 1989 der Austausch zum ersten Mal mit einer Unterbringung in Familien durchgeführt wurde, folgten auf eine Woche in den Familien noch ein paar Tage in der Jugendherberge oder im Zeltlager. 1992 z.B. drei Tage in der Nähe von Celle – organisiert von der Fachgruppe Biologie – mit ökologischer Freilandarbeit. Heutzutage wäre eine Abwesenheit von fast zwei Wochen bei den dichten Stundenplänen und dem Zentralabitur kaum durchsetzbar.“

Unterrichtsteilnahme als Schwerpunkt

Aus dem Archiv

Gleich als erster Punkt im Aufenthaltsplan wurde 1981 festgelegt: „Die polnischen Schüler sollten so oft wie möglich am Unterricht in der Bismarckschule teilnehmen.“ Was heute überrascht, hatte triftige Gründe: „Diese Schüler, die Deutsch als zweite Fremdsprache mit sechs Wochenstunden erlernen, sollten natürlich in erster Linie Deutsch sprechen und hören.“

Auch Ulrich Wehking erinnert sich an Zeiten, in denen die Kommunikation fast ohne Englisch funktionierte: „In den 90er Jahren gab es noch viel mehr Schüler*innen, die richtig gut Deutsch konnten.“ Das Interesse an der deutschen Sprache habe aber unter den polnischen Schülern nachgelassen. Und die heute häufig angewählten Deutschkurse mit nur zwei Wochenstunden führten zu keiner Kommunikationsfähigkeit. Früher habe es auf deutscher Seite auch immer zwei oder sogar drei Teilnehmer*innen mit polnischen Wurzeln und Sprachkenntnissen gegeben. Beim jetzigen Austausch sei das zum ersten Mal nicht der Fall gewesen. Auch heute noch sei es für die Jugendlichen spannend, den anderen Schulunterricht kennenzulernen. Wegen des vielfältigen Programms mussten diesmal drei Unterrichtsstunden dafür reichen. Viel mehr seien es wegen der Sprachbarrieren aber auch sonst nicht. Der polnische Unterricht sei ruhiger und lehrerzentrierter, fassten die deutschen Schüler*innen ihre Eindrücke aus dem letzten Jahr zusammen.

Besuch Kreuzkirche

Des Weiteren standen bei der ersten Begegnung Landeskunde, die Besichtigung des VW-Werks, ein Empfang beim Oberbürgermeister, Kultur und – trotz aller Hindernisse – Kontakt zu den deutschen Schüler*innen und ihren Familien auf dem Programm. Am Programm habe sich im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte nicht viel geändert, so Ulrich Wehking:

Bowling

Gegenseitiges Kennenlernen stehe an erster Stelle, immer Teil des Programms sei eine Stadtführung, meistens ein Museumsbesuch (Kunst oder Stadtgeschichte), lohnende Sehenswürdigkeiten, ein Gedenkstättenbesuch, ein Tagesausflug in eine andere Stadt, wenn möglich auch Oper oder Musical und natürlich: Spiel und Spaß. „Dieses Mal standen Bowling, 3D-Minigolf und Bouldern auf dem Programm. Durch die Förderung des Deutsch-Polnischen Jugendwerks können wir uns so etwas leisten.“

Urkunde vom DPJW

In den 90ern waren es aus Kostengründen noch der Geschichtslehrer, der die Stadtführung leitete, und der polnische Deutschlehrer oder die Deutschlehrerin, die seine Ausführungen übersetzten; heute wird dies dank besserer Finanzierung den Profis überlassen. „Eine segensreiche Einrichtung“, sagt Ulrich Wehking über das Deutsch-Polnische Jugendwerk. 1995, als er den Austausch übernahm, hat er noch gar nicht gewusst, dass es existiert. Die Stadt und der Verein der Eltern und Förderer unterstützten den Austausch finanziell, zudem lag der Elternbeitrag für die Finanzierung der Programmpunkte (Fahrkarten, Eintritte, Kosten für Führungen etc.) im dreistelligen Bereich – heute im zweistelligen. Dazu kommen natürlich noch Kosten für das tägliche Taschengeld.

Kontakt trotz Kriegsrecht

Doch zurück zu den Anfängen: Als Ende 1981 in Polen das Kriegsrecht ausgerufen wurde, mussten alle Pläne auf Eis gelegt werden: „Nach wenigen Monaten ergaben sich aber schon wieder einige Kontakte. Die Drähte zwischen den beiden Stadtverwaltungen waren ohnehin nicht abgerissen sondern durch das Kappen der Telefonleitungen nur erschwert.“

Im September 1983 reiste die erste deutsche Schülergruppe nach Posen, und die Memoirenschreiber erinnern sich:

Gründervater Henicz
Gründervater Bauermeister

„Alles war kompliziert und für unsere Verhältnisse mühevoll. Teilweise wurde es mit Humor, teilweise aber auch mit Beklemmung aufgenommen – lernten wir doch, in Ansätzen zumindest, den polnischen Alltag kennen. Die Zielsetzungen der polnischen Kollegen waren nicht deckungsgleich mit unseren. Beides stand aber in gewisser Beziehung zueinander!“

Dass die Gastgeber das Maximum aus den zwölf Tagen herausholen wollten, wird aus den folgenden Zeilen klar:

„Nachmittags war dann ein umfangreiches Besuchsprogramm vorgesehen, das auch bei bester physischer Konstitution nicht durchgehalten werden konnte. Hinzu kamen nämlich die Einladungen am Abend. Die Gastgeber rissen sich geradezu darum, die deutschen Gäste, jeweils in kleinen Gruppen, privat einzuladen.“

1986 kamen die ersten polnischen Schüler*innen nach Hannover, seitdem finden im jährlichen Wechsel Besuch und Gegenbesuch statt. Es findet also immer im September ein Austausch statt. „Das entlastet auch die Kollegen, da sie nicht zwei Begegnungen im Jahr organisieren müssen“, so Ulrich Wehking. Damals in den 1980ern hätte dies bestimmt auch ökonomische Gründe gehabt, für die polnische Seite wäre sonst die finanzielle Belastung zu hoch gewesen.

Schüler Bismarkschule

Diese Beschränkung auf eine Begegnung pro Jahr habe auch einen Nachteil, so Ulrich Wehking: „Etwa ein Drittel unserer Schüler hat beim Gegenbesuch in Hannover nicht denselben Schüler, der ihn im Vorjahr aufgenommen hat, als Gast. Da das Lyzeum seit 2002 auf den 10. bis 12. Jahrgang beschränkt ist, können die polnischen Kollegen den 10. Jahrgang nicht frühzeitig einbeziehen. Wenn die Oberstufe demnächst wieder mit dem 9. Jahrgang beginnt, wird eine zeitige und parallele Rekrutierung der Teilnehmer für zwei Jahre endlich (wieder) möglich."

Kein Selbstläufer

„Es gibt Jahre, da sind nur 13 der 15 Plätze besetzt, man muss immer werben, das Projekt ist kein Selbstläufer“, so Ulrich Wehking über seinen Austausch. Interessierte Jugendliche gäbe es immer, doch nicht in großen Scharen. Für die meisten sei der Blick in Richtung Osten zunächst nicht so attraktiv wie vielleicht der nach Spanien, Italien oder Frankreich. „Wenn sie Posen und die dortige Gastfreundschaft erlebt haben, sind sie begeistert. Aber das wissen sie vorher natürlich nicht.“ Mindestens zwei Drittel der Anmeldungen kommen übrigens seit Jahren von Mädchen – „die scheinen in diesem Alter, zwischen 15 und 18 Jahren, neugieriger und mutiger zu sein.“

Konzentrationslager Fort VII

In den 90er Jahren sei das Bild des jeweils anderen Landes noch stark durch die Kriegsgeneration geprägt gewesen – heute sei das in den Hintergrund getreten. „Aber wir verlieren das Thema trotzdem nicht aus den Augen und besuchen auch immer eine Gedenkstätte und beschäftigen uns im Vorfeld und vor Ort mit der Geschichte“, erklärt Ulrich Wehking. Auf der Schul-Website heißt es im Artikel „Zwischen Shoppingmall, Unterricht, Gedenkstätte und Zwergenaufstand" vom 08.11.2017: „Am Dienstagnachmittag brachte uns die Straßenbahn an den Stadtrand zur Gedenkstätte 'Märtyrermuseum FORT VII'. In der alten Festungsanlage bauten die deutschen Mörder schon im Oktober 1939 ein Konzentrationslager und die erste Gaskammer des 'Dritten Reiches'. Der Leiter ... führte uns engagiert ... durch diesen Ort des Todes und erinnerte am Schluss an neue Orte der Vernichtung. Erinnern, sich vor den Opfern verneigen, heute Wachsamkeit üben – drei gute Gründe für den Besuch."

Interesse an Politik sei bei den Jugendlichen indes vor allem auf polnischer Seite nicht sehr ausgeprägt: „Ich habe nachgefragt: ein einziger polnischer Schüler habe von sich aus über Politik gesprochen und sich dabei gegen die derzeitige Regierung ausgesprochen. Ansonsten war Politik kein Thema. Man spricht über den Alltag, über Hobbys und Musik – und stellt fest, dass man einander sehr ähnlich ist.“

Posen ist ein Privileg

Rathaus Posen

Von Polen schwärmt der Lehrer, 1985 habe er das Land zum ersten Mal kennengelernt; auch privat fährt er gerne hin. Und mit Posen seien sie privilegiert, die Stadt habe kulturell, architektonisch und historisch viel zu bieten und ist ab Hannover in fünf Stunden mit dem Zug erreichbar. „Posen ist mehrheitlich liberal eingestellt, die Arbeitslosigkeit ist niedrig – ganz anders ist die Stimmung wohl im Osten Polens. Man darf Polen nicht nur durch die Posener Brille sehen.“ Dass es bei den Austausch-Koordinatoren auch auf polnischer Seite in den letzten 23 Jahren nur einmal personelle Wechsel gab und auf deutscher Seite nur die zweite Person unterschiedlich besetzt war, mache nicht nur die Kommunikation und Organisation einfacher: „Es entstehen Freundschaften, man freut sich einander wiederzusehen“, erklärt der Lehrer. Ein häufigerer Wechsel müsse aber kein Nachteil sein, relativiert er.

Abschied nehmen

Für die nächsten 35 Jahre wünscht sich Ulrich Wehking, der das „Amt" in absehbarer Zeit weitergeben wird, dass sich weiterhin genug engagierte Lehrer*innen auf beiden Seiten finden, die das Projekt zusammen mit Eltern und Schüler*innen weiterführen, dass sie von den Schulleitungen ausreichend unterstützt werden und dass die politische Großwetterlage sich günstig entwickelt und das DPJW weiterhin großzügig fördern kann. Der Austausch selbst müsse nicht neu erfunden werden, sei im Detail aber für neue Ideen offen: Wichtig ist ihm, den deutschen Schüler*innen das schöne Posen und den polnischen Gästen Hannover zu zeigen und Kontakte in neue Richtungen zu ermöglichen. Und: „Verantwortung für den Gast übernehmen – schon für diesen Lernprozess lohnt sich der Austausch.“

Ein Beitrag von Christine Bertschi.

Veröffentlicht am: 14.11.2018