„Eine Vielfalt von Bedarfen und Situationen mitdenken“

Nachgefragt bei
Ulrike Werner
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Das Projekt VISION:INCLUSiON von IJAB, der Fachstelle für Internationale Jugendarbeit der Bundesrepublik Deutschland e.V., hilft, die internationale Jugendarbeit inklusiv zu gestalten. Ulrike Werner, die das Projekt zusammen mit Christoph Bruners und Claudia Mierzowski leitet, erklärt im Interview die Hintergründe, nächste Schritte und Ziele.

Inklusion ist ein sehr weites Feld – ob ein Jugendlicher lernbehindert, gehörlos oder schwerbehindert ist, dürfte ganz unterschiedliche Voraussetzungen und Herausforderungen mit sich bringen. Wie gelang es, bei VISION:INKLUSION eine Strategie zu finden, die alle miteinbezieht?

Ulrike Werner (IJAB)

Die Grundidee der Inklusion ist ja, die Gesellschaft so zu gestalten, dass alle, die es möchten, teilhaben und mitmachen können. Welche Beeinträchtigungen die Einzelnen haben, ist dabei erst einmal nicht so wichtig. Entscheidend ist dagegen die Bereitschaft, die eigenen Aktivitäten so anzupassen, dass die jeweiligen Bedarfe berücksichtigt werden. Manche Anpassungen sind aufwändig, manche aber auch ganz einfach umzusetzen. Ziel der Strategie ist es daher nicht, für jeden speziellen Einzelfall ein Rezept aufzuzeigen – selbst Jugendliche mit der gleichen Behinderung haben ganz unterschiedliche Bedürfnisse und Präferenzen. Stattdessen sollen Wege aufgezeigt werden, wie strukturelle Rahmenbedingungen, die Haltung innerhalb der Organisation, bestimmte Abläufe oder Praktiken so verändert werden können, dass eine Vielfalt von Bedarfen und Situationen automatisch mitgedacht werden oder einfach berücksichtigt werden können.

Die Strategie ist variabel und folgt einem Baukastenprinzip. Je nach der Situation und den Zielvorstellungen des Trägers können passende Schwerpunkte gesetzt werden: Es werden einfach die entsprechenden Handlungsziele ausgewählt und – durch die zugehörigen Reflexionsfragen unterstützt – eigene Maßnahmen entwickelt.

Bei der Erarbeitung der Strategie wurden möglichst unterschiedliche Akteure einbezogen, um so eine große Vielzahl von Perspektiven und Erfahrungen zu berücksichtigen. Ein zentrales Element war die Expert*innen-Gruppe, die das Projekt kontinuierlich beraten und Synergien ermöglicht hat. In ihr arbeiteten Vertreter*innen aus der Internationalen Jugendarbeit, aus Wissenschaft, Selbstvertretungsorganisationen, Verwaltung und Praxis zusammen.

An wen richtet sich die Broschüre, die zum Abschluss von VISION:INKLUSION publiziert wurde?

Die Broschüre richtet sich in erster Linie an Fachkräfte und Träger der Kinder- und Jugendhilfe, an Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mit Beeinträchtigungen sowie Träger der Behindertenhilfe, die an einer inklusiven Internationalen Jugendarbeit interessiert sind und ihre Arbeit, ihre Organisation entsprechend weiterentwickeln wollen.

Darüber hinaus enthält sie auch Fachimpulse für jugendpolitische Netzwerke, politisch Verantwortliche, Verwaltung, Ministerien und Förderinstitutionen. Für diese Zielgruppen sind vor allem die konzeptionellen Grundlagen sowie die Good-Practice-Beispiele aus den verschiedenen Arbeitsfeldern interessant. Die Beispiele verdeutlichen sehr anschaulich, was alles möglich ist, welche Punkte entscheidend sind und welchen Gewinn inklusive Programme für alle Beteiligten bedeuten. Die Publikation ist übrigens auf Deutsch und auf Englisch erhältlich.

Wie kamen Sie zum Fazit, dass der internationale Aspekt noch gestärkt werden muss und somit zum Folgeprojekt VISION:INCLUSiON ?

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Im Projekt ging es darum, die Internationale Jugendarbeit inklusiv zu gestalten. So sollen zum einen die vielfältigen Bildungschancen internationaler Projekte allen Jugendlichen zu Gute kommen und die gesellschaftliche Teilhabe gefördert werden. Zum anderen wird der gesellschaftspolitische Auftrag der Inklusion umgesetzt und das Arbeitsfeld insgesamt weiterentwickelt, wovon wiederum alle Beteiligten, ob Träger, Fachkräfte oder Teilnehmende mit und ohne Beeinträchtigung, profitieren.

Internationale Jugendarbeit ist aber ohne internationale Partner nicht denkbar. Die Partnerorganisationen sind ein ganz integraler Bestandteil der Projekte und mehr oder weniger intensiv beteiligt an: Konzepterstellung, organisatorischer und logistischer Planung, Programmentwurf, Akquise der Teilnehmenden, Vorbereitung der Teamer*innen etc. Auf alle diese Punkte hat daher die aktuelle Situation in den entsprechenden Ländern einen großen Einfluss. Das können gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen sein, praktische Fragen der Barrierefreiheit aber auch implizite Vorstellungen und Bilder hinsichtlich Behinderung, „Normalität“ oder Inklusion. Es ist sehr schwierig ein gemeinsames Projekt durchzuführen, wenn unausgesprochen verschiedene Ziele verfolgt werden oder die Haltung gegenüber Teilnehmenden mit einer Beeinträchtigung eine ganz andere ist.

Diese Aspekte werden im Projekt VISION:INCLUSiON gemeinsam genauer beleuchtet. Außerdem sollen ganz konkrete Tools entwickelt werden, die die Arbeit der Organisationen unterstützen, wie zum Beispiel ein „Cooperation Guide“.

Das Projekt VISION:INCLUSiON startete dieses Jahr und dauert bis Ende 2020. Was ist für diese drei Jahre geplant? Welche Akteure aus welchen Ländern sind beteiligt?

Ende November diesen Jahres findet in Berlin die internationale Auftakttagung statt. Dort soll der aktuelle Diskurs zum Thema aus verschiedenen nationalen und internationalen Perspektiven beleuchtet werden. Außerdem startet die Arbeit an den verschiedenen Projektschwerpunkten. Bei der anschließenden internationalen Partnerbörse haben Fachkräfte und Träger die Gelegenheit, den Austausch zu intensivieren und Partnerorganisationen für eine inklusive Jugendbegegnung oder einen inklusiven Fachkräfteaustausch zu finden. Ein internationales Team unterstützt dabei, dass möglichst konkrete Verabredungen zu gemeinsamen Austauschaktivitäten getroffen werden. In 2019 wird es ein inklusives internationales JugendBarCamp und in 2020 eine internationale Abschlussveranstaltung geben.

Außerhalb der zentralen Veranstaltungen findet die weitere fachliche Arbeit vor allem im Rahmen von internationalen Arbeitsgruppentreffen statt. Geplant sind zwei Treffen pro Jahr. Daneben gibt es wieder eine deutschlandweite Expert*innen-Gruppe, die das Projekt berät, dafür sorgt, dass eine Anbindung an die Trägerlandschaft gegeben ist und dass verschiedene Perspektiven und Bedarfe einbezogen werden.

Aus den vergangenen Jahren gibt es schon gute Kontakte zu Akteuren in Griechenland, Japan, Ungarn, Lettland, Finnland, Polen, Österreich, Slowakei, Serbien, Rumänien und anderen Ländern. Wichtig war uns vor allem die fachliche Expertise, so dass neben Verbänden und Netzwerken auch kleine Vereine oder Forscher*innen vertreten sind. Eine Aufteilung auf die verschiedenen thematischen Arbeitsgruppen sowie der Einstieg in die gemeinsame Arbeit sollen bei der Auftakttagung stattfinden.

Gibt es für Interessierte die Möglichkeit, sich an den Prozessen von VISION:INCLUSiON zu beteiligen und eigene Expertise einzubringen?

Ja, wir wünschen uns, dass sich möglichst viele Interessierte mit ihren Erfahrungen einbringen. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, sich entweder intensiver oder auch nur punktuell an VISION:INCLUSiON zu beteiligen und die Prozesse und Ergebnisse mitzubestimmen.

Die zentralen Veranstaltungen sind in diesem Jahr natürlich die internationale Auftakttagung, die vom 29. bis zum 30.11.2018 in Berlin stattfindet sowie die anschließende Partnerbörse vom 30.11. bis zum 01.12. Daneben gibt es ab Ende des Jahres die Möglichkeit, in den internationalen Arbeitsgruppen mitzuarbeiten.

Fortlaufende Gelegenheiten der Vernetzung und Diskussion bestehen außerdem über die Facebook-Gruppe VISION:INCLUSiON sowie über die Projekt-Webseite mit der Möglichkeit, sich in ein virtuelles Netzwerk eintragen zu lassen.

In Deutschland ist zumindest die Idee der Inklusion in der Gesellschaft bekannt und anerkannt. International dürften die Voraussetzungen – z. B. Barrierefreiheit, aber auch die Gewichtung der Inklusion – sehr unterschiedlich sein. Wie gehen Sie damit um, welche Herausforderungen bringt das mit sich?

Genau dieser Herausforderung, die sich einer inklusiven Internationalen Jugendarbeit immer wieder stellt, soll mit dem Projekt „VISION:INCLUSiON“ begegnet werden. Auch innerhalb Deutschlands sind übrigens die Vorstellungen davon, was unter Inklusion zu verstehen ist oder ob sie nur den schulischen Bereich umfasst, sehr unterschiedlich. Aber international gilt das natürlich umso mehr.

Grundlegend wichtig ist es, sich nie darauf zu verlassen, dass man von denselben Zielgruppen und Zielvorstellungen spricht, sondern an den Anfang immer eine Diskussion der Begriffe und eine Arbeitsdefinition zu stellen. Überhaupt sind die Kommunikation und ein vertrauensvoller, umfassender Austausch zwischen den beteiligten Partnern sehr wichtig.  Ein weiterer entscheidender Aspekt ist die gute, länderübergreifende Vorbereitung und Qualifizierung der Teamer*innen. Genau dafür sollen deshalb im Projekt unterstützende Instrumente und Grundlagen entwickelt werden.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Christine Bertschi.

Veröffentlicht am: 17.07.2018
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