Wie kann internationaler Austausch zu politischer Teilhabe beitragen?

Nachgefragt bei
John Dauert
Austausch 2024

John Dauert ist Lehrer für die Fächer Politik-Wirtschaft, Philosophie und Darstellendes Spiel und zudem didaktischer Leiter an der Henriette-Breymann-Gesamtschule in Wolfenbüttel (Niedersachsen). Die Schule ist seit zwei Jahren Europaschule und engagiert sich stark für Austauschprojekte.

Herr Dauert, Sie haben schon mehrere Austauschprojekte durchgeführt. Könnten Sie kurz beschreiben, wie diese Austausche bei Ihnen gestaltet sind?

John Dauert

John Dauert: Ja, wir sind tatsächlich noch im Aufbau. Wir sind seit zwei Jahren Europaschule und haben ein „Team Europa“ an der Schule, in dem sich Lehrkräfte für Projekte rund um Europa engagieren. Wir haben bereits verschiedene Begegnungsprojekte organisiert, vor allem mit polnischen Schulen. Momentan sind es noch einseitige Besuche – also einwöchige Programme mit gemeinsamen Workshops, Ausflügen und interkulturellen Aktivitäten –, aber unser Ziel ist es, ab 2027 einen richtigen Austausch mit gegenseitigen Besuchen zu etablieren.

Warum ist Ihnen gerade der Austausch mit Polen so wichtig?

Das hat viel mit meiner eigenen Biografie zu tun. Ich war als Oberstufenschüler über die Kirche das erste Mal in Polen und habe mich in das Land, die Kultur und die Menschen verliebt. Seitdem habe ich versucht, an jeder Schule, an der ich war, deutsch-polnische Austauschprojekte zu initiieren. Das Deutsch-Polnische Jugendwerk (DPJW) ist dabei ein großartiger Partner – nicht nur wegen der finanziellen Förderung, sondern auch, weil es hilft, Kontakte zu knüpfen. Aber natürlich ist jeder andere Austauschpartner genauso wertvoll und wichtig!

Sie unterrichten Politik und Wirtschaft – wie verstehen Sie Ihren Auftrag zur politischen Bildung?

Politische Bildung bedeutet für mich, Schülerinnen und Schüler zu befähigen, informierte und aktive Bürgerinnen und Bürger zu sein. Dabei geht es nicht nur um Wissen, sondern auch um Teilhabe: Demokratie muss gelebt werden. Eine der größten Herausforderungen ist, dass viele junge Menschen ihre Informationen heute fast ausschließlich aus sozialen Medien beziehen – nicht selten in Form von stark verkürzten oder gefärbten Inhalten. Meine Aufgabe als Lehrer ist es, ihnen zu helfen, Informationen kritisch zu hinterfragen, sachlich zu argumentieren und sich eine eigene Meinung zu bilden. Gleichzeitig sehe ich es als meine Pflicht, unsere demokratischen Grundwerte zu verteidigen.

Welchen Beitrag kann ein internationaler Austausch zur politischen Bildung leisten?

Austausch 2023

Ein schulischer Austausch hat hier eine zentrale Funktion. Ein Ortswechsel und die Begegnung mit Menschen, die in teils ganz anderen (politischen, kulturellen) Umständen leben, regt ganz klar zur Reflexion der persönlichen Überzeugungen an. Man hinterfragt dadurch fast automatisch das Selbstverständliche. 

Es gibt das berühmte Zitat, das Alexander von Humboldt zugeschrieben wird: „Die gefährlichste Weltanschauung ist die derjenigen, die die Welt nie gesehen haben.“ Ich habe selbst erlebt, wie sehr sich Einstellungen ändern können, wenn Schülerinnen und Schüler mit Gleichaltrigen aus anderen Ländern ins Gespräch kommen und damit auch ihre gesellschaftlichen Rahmenbedingungen hinterfragen.

In einer Begegnung mit einer polnischen Schule gab es beispielsweise eine lebhafte Diskussion über das Thema Migration. Die polnischen Schülerinnen und Schüler hatten eine völlig andere Wahrnehmung als unsere, und dieser Austausch hat bei beiden Gruppen Denkprozesse angestoßen.

Wie genau binden Sie Austauschprojekte oder internationale Begegnungen in Ihren Politikunterricht ein?

Bislang wurden die polnischen Projekte mit Treffen außerhalb des Kernunterrichts gestaltet, da Polnisch bei uns nicht gelehrt wird. Die Fahrten nach Frankreich und Spanien sind hingegen durch die Lehrenden im Unterricht fest integriert worden, indem Inhalte bereits vorher betrachtet und anschließend reflektiert wurden.

Wie gestalten Sie Ihre Austauschprogramme, damit sie eine nachhaltige Wirkung haben?

Wir achten darauf, dass die Teilnehmenden sich nicht nur auf kultureller Ebene begegnen, sondern auch an gemeinsamen Themen arbeiten. In unseren Projekten geht es oft um Europa und Demokratie. Das ermöglicht es, unterschiedliche Perspektiven kennenzulernen – gerade wenn die politischen Rahmenbedingungen in den jeweiligen Ländern verschieden sind. Ein wichtiger Punkt ist auch, dass sich die Jugendlichen in einem geschützten Raum austauschen können. Wir haben zum Beispiel festgestellt, dass polnische Schülerinnen und Schüler oft freier sprechen, wenn wir Lehrkräfte nicht anwesend sind. Das berücksichtigen wir nun bei der Gestaltung der Programme.

Haben Sie schon Veränderungen bei Ihren Schüler:innen nach einem Austausch erlebt?

Definitiv. Unsere Abiturientinnen und Abiturienten aus dem Austausch 2023 haben sich gerade selbstständig organisiert und treffen sich diesen Sommer wieder in Krakau – sie sind seit zweieinhalb Jahren über Social Media mit der Gruppe aus Polen in Kontakt geblieben. Auch bei jüngeren Teilnehmenden sehe ich Veränderungen: Sie sind offener und toleranter, weil sie durch den Austausch gemerkt haben, wie wenig ihre früheren Vorstellungen der Lebenswirklichkeit in Polen entsprachen. Ein schönes Beispiel war unser gemeinsamer polnischer Tanzabend – da haben am Ende alle mitgetanzt, und auch das Publikum hat begeistert mitgemacht. Solche Momente sind für mich gelebte europäische Identität. Nach einer ganz kurzen Zeit erkenne ich meine Schülerinnen und Schüler kaum wieder!

Sehen Sie auch Veränderungen in der politischen Wahrnehmung Ihrer Schüler:innen nach einem Austausch?

Ja, zum Beispiel beim Thema Medien. In Polen erleben unsere Schülerinnen und Schüler, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht dieselbe Rolle spielt wie bei uns. Die polnischen Jugendlichen erzählten, dass sie das staatliche Fernsehen eher als Propagandainstrument sehen und sich lieber deutsche Nachrichten ansehen. Unsere Schülerinnen und Schüler haben dadurch einen ganz neuen Blick darauf bekommen, wie wertvoll eine unabhängige Presse ist. Das sind genau die Aha-Momente, die Austausch ermöglichen kann.

Gibt es auch Grenzen dessen, was Austausch leisten kann?

Austausch 2023

Natürlich kann man nicht erwarten, dass nach einer Woche alle Teilnehmenden für immer ihre Einstellungen ändern. Aber ich glaube an den Graswurzel-Ansatz: Wenn man im Kleinen etwas sät, kann es wachsen. Austauschprojekte hinterlassen Spuren – manche halten ein Leben lang, manche nicht. Es kommt auch darauf an, ob die Gruppen gut zusammenpassen und wie die Rahmenbedingungen sind. 

Gastfamilien spielen zum Beispiel eine große Rolle. In Polen haben manche Eltern Bedenken, deutsche Jugendliche aufzunehmen, weil sie glauben, nicht den gleichen Lebensstandard bieten zu können. Das zeigt, dass Austausch auch wirtschaftliche und soziale Barrieren überwinden muss.

Welche Unterstützung bräuchte die Schule, um Austauschprojekte regelmäßig anbieten zu können?

Das Wichtigste ist eine gesicherte finanzielle Unterstützung, damit Austausch für alle zugänglich ist. Unsere Austauschfahrten dauern ca. 5-7 Tage – aber jeder und jede muss hier einen Beitrag als Eigenanteil mittragen. Es kann nicht sein, dass sich nur wohlhabende Familien so etwas leisten können. Und ohne öffentliche Förderung durch das DPJW oder andere Partner, etwa den Förderverein der Schule, könnten wir das gar nicht anbieten. 

Außerdem brauchen Lehrkräfte, die solche Projekte organisieren, mehr Anrechnungsstunden – aktuell machen wir das alles in unserer Freizeit. Auch die Offenheit der Schulleitung ist entscheidend. Zum Glück haben wir bei uns eine sehr unterstützende Schulleitung, aber ich weiß, dass das nicht überall so ist. 

Austausch braucht Zeit, Engagement und Ressourcen – und das sollte von offizieller Seite besser gefördert werden.

Wie sieht die Unterstützung auf Landesebene aus?

Wir haben ein gutes Netzwerk über den Europaschulverein und einige Fördermöglichkeiten über die Staatskanzlei. Allerdings ist das oft an Partnerregionen gebunden – wenn die Partnerschule außerhalb dieser Regionen liegt, gibt es keine Förderung. Hier würde ich mir wünschen, dass es flexiblere Lösungen gibt. Grundsätzlich sehe ich aber eine zunehmende Offenheit für das Thema, gerade seit der letzten Landtagswahl. Dennoch: Ohne mehr finanzielle und strukturelle Unterstützung bleibt vieles von der Eigeninitiative einzelner Lehrkräfte abhängig.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Ruth Rothermundt.

Veröffentlicht am: 30.04.2025