Warum nicht? Studie zum Internationalen Jugendaustausch: Zugänge und Barrieren

Untertitel
Die Zugangsstudie - Grundlage und zentrale Erkenntnisse

von
Dr. Helle Becker, Zijad Naddaf, Andreas Rosellen, Prof. Dr. Andreas Thimmel

Ausgangslage

Die positiven Einflüsse von pädagogisch begleiteten Auslandsaufenthalten für junge Menschen sind mehrfach durch Forschungen belegt worden. Obwohl in der Bundesrepublik Deutschland vielfältige Unterstützungsstrukturen vorhanden sind, konnten bisher vor allem sogenannte bildungsnahe Zielgruppen Internationalität erfahren. Hemmnisse für die Teilnahme an internationalen Aktivitäten sind vielfältig. Sie können u.a. psychologischer, ökonomischer, struktureller, gesellschaftlicher oder politischer Art sein.

Zielsetzung der Zugangsstudie

Forschungsprojekt „Warum nicht? Studie zum Internationalen Jugendaustausch: Zugänge und Barrieren“ (Zugangsstudie)

Vor dem Hintergrund, dass jeder junge Mensch die Möglichkeit haben sollte eine Auslandserfahrung zu erleben, hat sich das Forschungsprojekt zum Ziel gesetzt,

  • Datenlücken im Bereich des internationalen Jugendaustauschs zu schließen,
  • auf empirischer Grundlage die Situation der in den vorhandenen Formaten bisher unterrepräsentierten Gruppen profunder einzuschätzen,
  • Zugangsbarrieren zu lokalisieren und übliche Handlungsmuster zu problematisieren,
  • Maßnahmen zu begründen, um mehr jungen Menschen die Teilnahme an internationalen Programmen zu erleichtern.

Zentrale Forschungsfragen waren daher:

  • Wie hoch ist der Anteil der Jugendlichen, die an Formaten des internationalen Jugendaustauschs teilnehmen oder sich dafür interessieren und potenziell teilnehmen wollen?
  • Welche Jugendlichen werden vom bisherigen Angebot nicht erreicht?
  • Welche Faktoren beeinflussen die Entscheidung der Jugendlichen und welche Hürden gibt es?

Forschungsdesign

Aufgrund der vielfältigen Hemmnisse beim Zugang zu pädagogisch konzipierten internationalen Aktivitäten im non-formalen Bereich entwickelte „Forschung und Praxis im Dialog – Internationale Jugendarbeit (FPD)“, in Zusammenarbeit mit den beteiligten Forschungspartnern, ein multimethodisches und interdisziplinäres Forschungsvorhaben:

  • Das SINUS-Institut befragte in einer Repräsentativbefragung über 2.000 junge Menschen im Alter von 14 bis 27 Jahren.
     
  • Das Institut für Kooperationsmanagement (IKO) erstellte eine Literaturanalyse zum Thema. Darüber hinaus führte das Institut 49 Interviews mit bisher Nichtteilnehmenden durch, die aus der Gruppe der von SINUS befragten Stichprobe generiert wurden.
     
  • Das Forschungsverbund „Freizeitenevaluation“ wertete dem Projekt vorliegende Fragebögen aus, mit denen bisher unterrepräsentiert Teilnehmende Auskunft über ihre Erfahrungen in internationalen Jugendbegegnungen gaben. Er implementierte zudem eine langfristig angelegte Panelstudie mithilfe des Selbstevaluationstools für Jugendbegegnungen „i-EVAL“.
  • Der Forschungsschwerpunkt Nonformale Bildung der Technischen Hochschule Köln (TH Köln) befragte 40 Expert:innen zu strukturellen Rahmen-bedingungen der Internationalen Jugendarbeit in Einzelinterviews sowie Jugendliche im Rahmen eines Gruppengesprächs. Die Einzelergebnisse wurden zu einem Gesamtbild zusammengefasst.

Das Forschungsprojekt wurde von einem Beirat begleitet, um den Diskurs mit der Praxis herzustellen. Auf diese Weise konnte Expert:innenwissen zentraler Fach- und Förderstellen eingebunden werden. Die Teilergebnisse der einzelnen Studien werden nachfolgend dargestellt und miteinander in Verbindung gesetzt.

Zentrale Erkenntnisse

Klassifikation der Formate: Was bedeutet „Internationaler Jugendaustausch“?

Der Untersuchungsgegenstand des internationalen Jugendaustauschs wurde vom Forschungsteam wie folgt definiert:

Unterschieden werden Angebote im formalen und non formalen Rahmen sowie individuelle und gruppenbezogene Formate. Zum Kernbereich der Untersuchung wurden die klassischen Formate der Internationalen Jugendarbeit wie Workcamps und internationale Jugendbegegnungen sowie individuelle Freiwilligendienste gezählt. Im formalen Bildungsbereich zählen der individuelle und gruppenbezogene Schüler*innenaustausch sowie Auslandspraktika dazu.

Dieser Kernbereich grenzt sich von Formaten ab, die keinen Begegnungscharakter haben, wie beispielsweise ein Auslandssemester oder die Auslandsklassenfahrt in der Schule. Auch Au-Pair- oder Work-and-Travel-Aufenthalte zählen nicht dazu.

Formate-Klassifikation aus der Studie „Warum nicht? Studie zum Internationalen Jugendaustausch: Zugänge und Barrieren“ (Becker/Thimmel 2019, S. 22)

 

Die Motivierten: Große Gruppen potenziell Interessierter

Das SINUS-Institut befragte 2.380 junge Menschen nach Kenntnissen über unterschiedliche Formate sowie nach Gründen für eine Teilnahme bzw. Nichtteilnahme. Hervorzuheben ist, dass es große Gruppen interessierter Jugendlicher gibt, die bereits teilgenommen haben oder zu potenziell Teilnehmenden werden könnten. Es wurden drei Gruppen identifiziert:

  1. Junge Menschen, die austauscherfahren sind, können als potenzielle Teilnehmende für weitere Aktivitäten angesehen werden (26 %). Sie haben Austauschformate im non-formalen (10%) oder formalen Bereich (16%) genutzt.
  2. Junge Menschen, die als austauschunerfahren im Sinne der Formatdefinition gelten, jedoch im weiteren Sinne andere Auslandsformate (beispielsweise Work & Travel) erlebt haben (26%).
  3. Junge Menschen, die bislang keine Erfahrungen mit einem organisierten Auslandsaufenthalt gemacht haben, sich aber vorstellen können, an einem der Formate des Internationalen Jugendaustauschs teilzunehmen (11%).

Demnach gelten 63% der Befragten als grundsätzlich interessiert, während die übrigen 37% kein Interesse an einer Teilnahme geäußert haben.

Milieuzugehörigkeit und Motive zur Teilnahme

Für weitere Erkenntnisse wurde das SINUS-Modell von Lebenswelten junger Menschen in Deutschland herangezogen, das eine Milieubildung nach normativer Grundeinstellung und Bildung vornimmt. Auf diese Weise wurde deutlich, dass die relevanten Faktoren für eine Teilnahme bzw. Nichtteilnahme milieuunabhängig sind.

Die Motive für eine Teilnahme an internationalen Formaten sind unterschiedlich:

  • Für 90 % der Befragten sind intrinsische Motive (Spaß, neue Erfahrungen, andere Kultur kennenlernen) bedeutsam, wobei die Milieuzugehörigkeit kein Unterscheidungsmerkmal ist.
  • Extrinsische Motive, etwa die Verbesserung der Karrierechancen oder der Wunsch der Eltern, spielen eine nachrangige, dennoch vorhandene Rolle.

Die Ergebnisse der Panelstudie zeigen gleichzeitig, dass die Motive Spaß und Gemeinschaftsleben tatsächlich von allen Jugendlichen bei einer Begegnung realisiert werden können und dementsprechend positiv bewertet werden.

Hinderungsgründe und Barrieren

Junge Menschen entscheiden sich aus unterschiedlichen Gründen gegen die Teilnahme, nehmen Angebote als nicht relevant wahr oder erfahren erst gar nicht von den Möglichkeiten.

Aus den Erkenntnissen der Interviews mit Nichtteilnehmenden wurde deutlich, dass fehlende Informationen eine wichtige Rolle spielen. Vielen Befragten waren die Angebote nicht bekannt. Die Teilstudie von SINUS belegt, dass das soziale Umfeld, Freunde und Familie zu den wichtigsten Informationsquellen zählen.

Die Ergebnisse des IKO und der TH Köln zeigen zudem, dass der Auslandsaufenthalt von Jugendlichen sowie Erwachsenen als Belohnung für leistungsstarke und engagierte Jugendliche angesehen werden kann – ein Diskurs, der vor allem durch die Erfahrungen mit schulischen Formaten gespeist wird.

Außerdem spielt die Annahme, dass internationale Aufenthalte mit hohen Kosten verbunden sind, eine wichtige Rolle.

Die Ergebnisse der SINUS-Befragung sowie der Sonderauswertung des Forschungsverbunds „Freizeitenevaluation“ ergaben, dass die Motive für eine Teilnahme und die zu einer Nichtteilnahme führenden Bedenken milieuunspezifisch sind. Dies erhärtet die oben erwähnte Erkenntnis, dass potenziell Teilnehmende in allen Milieus zu finden sind.

Befragung der Fachkräfte: Benachteiligungsdiskurs und „Luxusaktivität“

Die Zugangsstudie belegt demnach, dass Nichtteilnehmende keine spezifische Milieu zugehörigkeit aufweisen und nicht per se als benachteiligt anzusehen sind.

Für viele der befragten Fachkräfte hingegen war die Annahme, dass die Nichtteilnahme aus Benachteiligung resultiert, sehr deutlich. Viele befragte Expert:innen beschrieben die Internationale Jugendarbeit zudem als hochschwellige „Luxusaktivität“, die sehr voraussetzungsvoll sei und on top zu ihrer regulären Arbeit bewältigt werden müsse. Diese Einschätzung bezieht sich auch auf Strukturen und Erreichbarkeit von Förderprogrammen.

So entsteht ein Diskurs, der die angenommene Benachteiligung reproduziert und dazu führt, dass Sonderformate und -programme initiiert werden, die sogenannte benachteiligte Zielgruppen speziell in den Fokus nehmen. Diese können effektiv sein, jedoch nicht zum Abbau struktureller Hürden führen, die insbesondere in förderpolitischen Rahmenbedingungen verankert sind.

Stärkung der Jugendarbeit

Aus Sicht des Forschungsteams sind Zugangsbarrieren im Hinblick auf alle jungen Menschen zu verringern. Dafür ist eine Stärkung der Jugendarbeit notwendig, damit diese vor allem auf lokaler Ebene ausreichend Ressourcen zur Verfügung hat, um eine lebensweltliche Anbindung internationaler Jugendarbeit zu ermöglichen und jungen Menschen damit außerdem partizipative, d.h. selbstgestaltete Zugänge zu internationalen Formaten zu erleichtern.

Die Unterstützung der zahlreichen regionalen, bundesbezogenen und europäischen Akteure für lokale Jugendarbeit ist beizubehalten. Dafür sollten Fachkräfte zur Umsetzung internationaler Angebote qualifiziert und zugängliche Förderstrukturen geschaffen werden. Grundlegende Veränderungen in der Förderlogik und den Finanzierungsmöglichkeiten müssten erreicht werden, um allen Jugendlichen die Teilnahme am internationalen Jugendaustausch zu ermöglichen.

Forschungspartner

Das Projekt wurde von Forschung und Praxis im Dialog – Internationale Jugendarbeit (FPD) koordiniert und von der Robert Bosch Stiftung und vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend von 2016 bis 2018 gefördert.

Die Forschungspartner der Zugangsstudie:

  • Institut für Kooperationsmanagement (IKO): Regensburg, Prof. Dr. Alexander Thomas und Dipl.-Psych. Heike Abt
    Analyse vorliegender Studien zu bisher unterrepräsentierten Gruppen sowie Tiefen-Interviews mit Jugendlichen, die bisher nicht an internationalen Programmen teilgenommen haben
  • SINUS-Institut Heidelberg: Dr. Silke Borgstedt
    Repräsentativbefragung Jugendlicher zur Teilnahme an internationalen Austauschmaßnahmen
  • Technische Hochschule Köln: Prof. Dr. Andreas Thimmel
    Qualitative Interviews mit Expertinnen und Experten, vorrangig zu strukturellen Bedingungen
  • Forschungsprojekt Freizeitenevaluation: Dr. Wolfgang Ilg und Judith Dubiski
    Panel-Befragung und Sonderauswertung bereits vorliegender Fragebögen im Rahmen der Evaluation Internationaler Jugendbegegnungen
Veröffentlicht am: 30.04.2019