Selbst gestalten, statt nur mitmachen

Internationale Jugendbegegnungen sind viel mehr als Reisen und neue Freundschaften – sie können junge Menschen politisch bilden, zu Aktivitäten befähigen und in ihrer Persönlichkeit stärken. Das Projekt „wir weit weg“ zeigt, wie Jugendliche an Oberschulen in Sachsen durch echte Beteiligung an Austauschprojekten wachsen. Sina, seit 2017 Coachin bei „wir weit weg“, berichtet im Interview zum 10-jährigen Jubiläum des Projekts von Herausforderungen, Aha-Momenten und der Kraft von Selbstwirksamkeit.
Jugendpartizipation im Zentrum
„Mit wir weit weg wollen wir erreichen, dass auch Jugendliche, die Haupt- und Realschulzweige besuchen, Zugang zu internationalen Austauschprojekten bekommen – und zwar auf partizipatorischen Wegen“, erklärt Sina. Die Teilnehmenden aus Sachsen sollen nicht einfach mitfahren, sondern den gesamten Prozess der Jugendbegegnung mitgestalten: von der Themenwahl über die Partnersuche bis hin zur Programmplanung. Unterstützt werden sie dabei von Coaches, die Impulse geben und begleiten, aber keine fertigen Konzepte vorgeben.
„Das Projekt ist so konzipiert, dass Jugendliche möglichst selbstständig Jugendbegegnungen planen und organisieren“, erzählt Sina. Organisiert wird das Ganze als freiwillige AG an Schulen in Sachsen – also außerhalb des regulären Unterrichts. Interessierte Jugendliche können sich anmelden, und im Laufe eines Schuljahres entsteht Schritt für Schritt ein Projekt, das am Ende in eine einwöchige Jugendbegegnung mündet. Das Projekt wird von der Kindervereinigung Leipzig e. V. getragen und wird vom Kompetenzzentrum für Internationale Jugendarbeit geleitet.
Demokratie im Kleinen – Entscheidungen treffen lernen
Ein zentrales Ziel des Projekts ist es, Jugendlichen demokratische Entscheidungsprozesse näherzubringen – ganz praktisch und erfahrbar. „Sie lernen, was es bedeutet, gemeinsam Entscheidungen zu treffen. Wie fühlt es sich an, wenn man überstimmt wird? Wie schaffen wir es, zu einem Konsens zu kommen?“, schildert Sina.
Gerade in dieser Planungsphase gehe es nicht nur um Organisation, sondern auch um politische Bildung im besten Sinne: „Es ist so wichtig, jungen Menschen zu zeigen, dass ihre Stimme zählt – und dass sie Verantwortung übernehmen können.“ Die Jugendlichen entscheiden selbst, welches Thema ihre Begegnung haben soll, mit welchem Partnerland sie kooperieren möchten und wie das Programm aussehen soll.
Raum für Selbstwirksamkeit
Eine besonders intensive Lernerfahrung erleben viele Jugendliche, wenn sie merken, dass sie etwas ganz Eigenes auf die Beine gestellt haben – etwa die selbstorganisierte Abschlussparty am Ende der Begegnung. „Es gibt dann ein Deko-Team, eins für das Essen, eins für das Programm – und alle sind verantwortlich“, sagt Sina. „Am Ende sagen die Jugendlichen dann: ‚Das war unsere Party, das haben wir komplett selber organisiert.‘ Das ist ein unglaublich wertvoller Moment.“
In solchen Situationen werde Selbstwirksamkeit nicht nur thematisiert, sondern erlebt: „Die Jugendlichen merken: Ich kann was verändern. Ich kann was bewegen.“
Wachsen an Herausforderungen
Natürlich ist der Weg zur Begegnung nicht immer einfach. Besonders herausfordernd sei oft die Anfangsphase, in der viele Entscheidungen getroffen werden müssen. „Wir Coaches müssen da die Balance finden: Wir geben Struktur, aber lassen Raum für die Eigeninitiative“, erklärt Sina. Auch administrative Hürden wie das Finden von Partnerorganisationen oder das Formulieren inhaltlicher Lernziele für die Erasmus+-Anträge seien anspruchsvoll – aber genau darin liege das Lernpotenzial.
„Jugendliche lernen, mit Frustration umzugehen, kreative Lösungen zu finden und Verantwortung zu übernehmen. Auch das gehört zum Prozess dazu.“
Wenn schüchterne Jugendliche zu Initator:innen werden
Die Wirkung solcher Projekte wird besonders deutlich, wenn man die Entwicklung einzelner Jugendlicher über mehrere Jahre begleitet. Sina erinnert sich an zwei Jugendliche, die zu Beginn sehr zurückhaltend waren. „Sie haben kaum gesprochen, waren ganz schüchtern. Und am Ende haben sie eigene Workshops organisiert und Energizer angeleitet. Mittlerweile sind sie selbst Coaches bei wir weit weg!.“
Ein anderes Beispiel ist ein Teilnehmer, der anfangs sehr schüchtern war und sich kaum traute, in der Gruppe zu sprechen. „Er hat sich total zurückgezogen, war still und eher im Hintergrund“, erinnert sich Sina. Im Laufe der drei Jahre, in denen er mehrfach an Jugendbegegnungen teilnahm, veränderte sich das deutlich: „Er ist immer mehr aufgetaut, hat angefangen, viel mit uns zu reden, sich einzubringen, Ideen zu äußern.“ Beim letzten Austausch in Leipzig – einer Rückbegegnung mit Jugendlichen aus Frankreich – ergriff er dann sogar die Initiative: Als leidenschaftlicher Skater, der auch im Skatepark arbeitet, schlug er vor, eine gemeinsame Nachmittagsaktivität im Skatepark zu organisieren. „Er hat alles selbstständig geplant, organisiert, mit dem Skatepark abgesprochen – und dann vor Ort den anderen Jugendlichen sogar das Skaten beigebracht“, erzählt Sina.
Warum gerade Oberschulen?
Für viele Teilnehmende sei es das erste Mal, dass sie ins Ausland reisen – oder überhaupt das erste Mal, dass sie in einer Gruppe Verantwortung übernehmen. „An Oberschulen ist der Zugang zu Austauschprojekten oft noch eingeschränkter als an Gymnasien“, erklärt Sina. „Dabei sind die Lernerfahrungen für diese Jugendlichen besonders intensiv.“
Englischkenntnisse oder mangelnde Erfahrung mit Reisen ins Ausland könnten zunächst Hürden darstellen – doch auch hier gelte: „Die Jugendlichen wachsen über sich hinaus. Und sie merken: Ich kann viel mehr, als ich dachte.“
Was braucht es politisch?
Für Sina ist klar: Solche Projekte sollten kein Sonderfall sein.
„wir weit weg ist ein kleines Projekt – dabei müsste es so etwas an jeder Schule in Sachsen geben.“
Es brauche mehr finanzielle und strukturelle Unterstützung, mehr Informationsweitergabe und vor allem eine andere Haltung gegenüber Jugendlichen: „Partizipation muss ernst gemeint sein.“
Politik und Gesellschaft müssten den internationalen Jugendaustausch als Chance begreifen – für Bildung, für Demokratie, für ein friedliches Miteinander. „Statt Jugendlichen zu sagen, was sie lernen sollen, sollten wir ihnen Räume geben, es selbst herauszufinden“, meint Sina. „Wenn sie erleben, dass sie etwas bewirken können, dann sind sie auch bereit, Verantwortung für unsere Gesellschaft zu übernehmen.“
Austausch als Lernfeld für Teilhabe und Demokratie
Das Projekt wir weit weg zeigt, wie Austauschprojekte politische Bildung erlebbar machen. Indem Jugendliche selbst planen, entscheiden, mitgestalten, erleben sie Selbstwirksamkeit und demokratisches Handeln ganz konkret.
Gerade für Jugendliche, die Haupt- und Realschulzweige besuchen kann ein solches Projekt einen Unterschied machen – für das Selbstbewusstsein der Jugendlichen, ihre sozialen Kompetenzen und ihre Haltung zur Welt. Oder wie Sina es sagt:
„Es ist so wichtig, jungen Menschen zu zeigen, dass sie etwas bewirken können. Und genau das passiert im Austausch.“
Finanzierung des Projekts
Seit 2022 finanziert die Stadt Leipzig anderthalb Stellen für die Projektkoordination der internationalen Jugendarbeit bei der KINDERVEREINIGUNG Leipzig e.V. und damit anteilig die Umsetzung von wir weit weg an vier Schulen in Leipzig.
Das Projekt wurde zwischen 2017 und 2019 anteilig aus Mitteln des Amts für Jugend, Familie und Bildung (AfJFB) der Stadt Leipzig sowie des Innovationsfonds des Kinder- und Jugendplans des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) finanziert.
Von November 2018 bis Ende 2019 hat die Robert Bosch Stiftung die wissenschaftliche Evaluation des Projekts sowie die Stärkung des strategischen Fundraisings gefördert.
Für die internationalen Jugendbegegnungen werden Budgetanträge im Rahmen der Akkreditierung bei ERASMUS+, dem Mobilitätsprogramm der Europäischen Kommission, bei den bilateralen Fach- und Förderstellen oder Landesförderprogrammen gestellt.
Das Gespräch führte Ruth Rothermundt.