Good Practice

Global Citizenship Education: ein Wandel an der ganzen Schule

Eine Schülerin präsentiert ihre Lernergebnisse zum Thema "Ukraine, Russland und Deutschland - give peace a chance!

An der Sophie-Scholl-Schule, einer Förderschule für chronisch Erkrankte im Allgäu, steht die Beschäftigung mit globalen Themen im Mittelpunkt. Bereits 2010 wurde die Schule für ihren ganzheitlichen Ansatz mit dem deutschen Schulpreis ausgezeichnet. „Mit der Umsetzung der Ziele der Global Citizenship Education muss ein Wandel an der ganzen Schule einhergehen. Veränderungen können aber schon mit kleinen Schritten beginnen und sind damit praktisch an allen Schulen möglich“, erklärt Schulleiterin Andrea Rahm.

 

„Global Citizenship Education ist politische Bildung im globalen Maßstab. Sie vermittelt Wissen und Fähigkeiten, um globale Herausforderungen zu verstehen und ihnen aktiv zu begegnen“, so die Definition der UNESCO. Lernende soll sie in die Lage versetzen, ein Zugehörigkeitsgefühl zur Weltgemeinschaft zu entwickeln und eine aktive Rolle in der Gesellschaft zu übernehmen, einen Beitrag zu einer friedlichen, gerechten Welt zu leisten, in der ökologische Ressourcen bewahrt werden.

Andrea Rahm

Wie es gelingt, diesen Ansatz in der Schule umzusetzen, ohne die Schule dafür zu verlassen, zeigt die Sophie-Scholl-Schule in Oberjoch im Allgäu. Hier gehen Schüler:innen aller Schularten aus ganz Deutschland während der Zeit ihrer Reha-Maßnahme zur Schule. „Daher sind die meisten nur kurze Zeit bei uns. Während dieser wenigen Wochen geht es um ein nachhaltiges Lernen und es gibt keine Möglichkeit für einen Schulaustausch“, erklärt Schulleiterin Andrea Rahm. Es gibt auch Schüler:innen, die über einen längeren Zeitraum in Oberjoch sind, auch sie alle haben chronische Erkrankungen und sind deshalb in der Schule auf 1200 Meter Höhe untergebracht.

Die Sophie-Scholl-Schule gilt als Förderschule, weil chronische Erkrankung eine Behinderung darstellt. „Uns ist insgesamt aber wichtig, dass die Schulart in keinster Weise eine Rolle spielt und wir Schüler:innen aller Schularten ein inklusives hochwertiges und nachhaltiges Lernen ermöglichen“, betont Rahm. Durch die ständig wechselnden Schüler:innen mit unterschiedlichsten Bildungshintergründen sei – wie in jeder anderen Schule mit heterogenen Schüler:innengruppen – eine Lernkultur notwendig, in der jeder und jede entsprechend der eigenen Möglichkeiten lernen könne, und dies auf jeweils höchstem Niveau. Andrea Rahm und ihre Kolleg:innen nehmen diese Herausforderung zum Anlass, an ihrer Schule klare Ziele zu verfolgen: Die Schule soll den Kindern und Jugendlichen Grundlagen vermitteln, um die komplexen Zusammenhänge der Globalisierung zu erfassen und handlungsfähig zu werden. Dabei arbeiten sie projektbasiert und fächerübergreifend. Globale Themen und Inhalte, die an anderen Schulen sonst nur am Rande vorkommen, spielen in Oberjoch damit eine zentrale Rolle.

Zwei Schülerinnen arbeiten zum Thema "Iss jetzt gut?! Was unser Essen und unser Lebensstil mit dem Klimawandel und den Menschenrechten zu tun hat"

Wandel der Schule

Wie damit ein Wandel der ganzen Schule einherging, betonte Andrea Rahm auch gegenüber dem Deutschen Schulportal:

Die Umsetzung der Ziele der Global Citizenship Education verlangt von den Lehrkräften viel Einsatz und Zeit, sowie Mut zur Selbstreflexion. Um fächerübergreifendes Arbeiten zu ermöglichen, müssen Lehrpersonen, Schülerinnen und Schüler sowie andere Beteiligte eng kooperieren. Dafür ist es notwendig, dass die Lehrkräfte über das eigene Unterrichtskontingent hinaus in der Schule präsent sind und sich als Teamplayer verstehen.“

Das Ziel sei ein fächerübergreifendes und -vernetztes Lernen durch eine Beschäftigung mit komplexen Themen. In Oberjoch werden globale Themen von Kindern aller Alter und Schularten behandelt, hier werden sonst periphere Themen in die Mitte gesetzt. Aber weil nicht alles Komplexe auch kompliziert sein muss, müssen sich nicht die Kinder ändern, sondern die Struktur von Schule. Es wird deutlich: Komplexe Themen müssen nicht kompliziert sein. Dass viele Sachverhalte und Entscheidungen in unserem Teil der Welt direkte Auswirkungen auf das Leben der Menschen in anderen Weltteilen hat (und umgekehrt), lässt sich durch verschiedene Formen des Lernens vermitteln.

„Die Arbeit an konkreten Weltthemen und Phänomena – Klimawandel, globale Fairness oder Wasser – kann in besonderer Weise eine Gelenkstelle sein, einen Kulturwandel in der Schule anzustoßen: die Überwindung von Fachisolierung und von alten Raum-, Zeit- und Organisationsstrukturen“, so Andrea Rahm. Darüber hinaus sei diese Arbeitsweise auch eine besonders nachhaltige Form des Lernens: „Unsere Welt ist nicht nach Fächern getrennt, für die Schüler:innen sollte jeweils das Thema im Zentrum stehen, und nicht das Schulfach“, so die Pädagogin. Um dies umzusetzen, müssen die Lehrkräfte aus allen Fachbereichen zusammenarbeiten: Multiprofessionelle Teamstrukturen und ko-konstruktives Handeln sei hierbei gefragt. „Eine gute Schule muss einen interessierten, offenen Weltblick befördern. Sie muss komplexe Zusammenhänge verstehbar machen, Selbstwirksamkeit ermöglichen und Demokratie im globalen Kontext verstehen lernen“, so Andrea Rahm.

Eine Schülerin präsentiert ihre Lernergebnisse zum Thema "Ukraine, Russland und Deutschland - give peace a chance! Im Hintergrund stellt ein Schüler einem anderen die Nachrichten der Woche zum Thema "Grönland und das ewige Eis?!" vor.

Lehrpläne nutzbar machen

Das Konzept der Global Citizenship Education an einer Schule zu verankern, sei nicht leicht, so Andrea Rahm: „Dafür muss eine Bereitschaft zu Wandel und eine Auseinandersetzung mit globalen Themen im Schulhaus, im Alltag und bei jeder Lehrkraft verinnerlicht werden.“ Dies sei eine Herausforderung, insbesondere auch im Hinblick auf die Frage, wie Lehrpläne dafür nutz- und umsetzbar gemacht werden können.

Während in Oberjoch aufgrund der Schulstruktur ein klassischer Schulaustausch sowieso nicht in Frage käme, äußert Andrea Rahm auch Zweifel gegenüber Austauschmaßnahmen mit dem Globalen Süden oder anderen finanziell schlechter gestellten Ländern: „Mit bisherigen Austauschmaßnahmen, also Reisen auch nach Afrika, die sich nur die westlichen/nördlichen Teilnehmenden leisten können, kann man keinen gerechten Austausch, keine wirkliche Begegnung gewährleisten.“ Ihr Ziel ist indes, ein über Europa hinausreichendes Weltbild zu schaffen und Kindern einen Kontakt mit der Welt zu ermöglichen: „Kontakt heißt nicht zwangsläufig zu reisen, im Mittelpunkt stehen Auseinandersetzung, Empathie und inhaltlicher Austausch“, erläutert sie. Dies müsse aber strukturell möglich sein. Wünschenswert fände sie eine Verankerung des Globalen Lernens in der Lehrer:innenausbildung: „Veränderung fängt im Lehrerzimmer an – und im Vorbereitungsdienst!“

Auch kleine Schritte führen ans Ziel

Andrea Rahm ist sich bewusst, dass nicht jede Schule so arbeiten kann wie ihre. Für den Anfang schlägt sie vor, ein Thema – zum Beispiel Regenwald + Tierhaltung/Agrarpolitik – fächerübergreifend zu vereinbaren und über mehr als nur eine Projektwoche lang zu verfolgen. Anstelle von Prüfungssitzungen empfiehlt sie Präsentationen. Und wer noch einen Schritt weiter gehen will, kann mit einem Pilotjahrgang starten, anstatt gleich die ganze Schule umzukrempeln. „Der Wandel und die Schulentwicklung brauchen Zeit“, betont die Schulleiterin.

Arbeit einzelner Schüler:innen an den komplexen Weltthemen - Lernen an Phänomenen

Manche Lernprozesse der Global Citizenship Education könnten aber auch so in den Unterricht eingebaut werden, zum Beispiel die Erkenntnis, dass wir alle Teil des Systems sind. „Wir können die Erfahrung der Ohnmacht gegenüber den Herausforderungen unserer Zeit begleiten und die Schüler:innen zu Selbstwirksamkeitserfahrungen hinführen“, erklärt die Pädagogin. Die Schule solle Anlässe schaffen, über (globale) Fragen und Themen zu sprechen, mehr zu erfahren und sich auszutauschen. Auf diese Weise könnten Kinder lernen zu unterscheiden, was sie selbst tun können, und was nicht.

„Schule ist ein Ermöglichungsraum für das Erproben neuer Lösungen im Tun für alle. Gute Schule schafft vielfältige Möglichkeiten echter freiwilliger Partizipation, sie schafft kontinuierlich Autonomieerfahrung und das Erleben von Selbstwirksamkeit“, so Andrea Rahm. An der Motivation der Jugendlichen scheitere dies indes nicht: „Schüler:innen wollen sich mit Weltthemen differenziert auseinandersetzen.“

Ein Beitrag von Christine Bertschi.

Veröffentlicht am: 01.11.2023