Türen öffnen und im Herzen etwas zum Klingen bringen

Chancen, Herausforderungen und langfristige Wirkungen beim Austausch mit Förderschulen
Kreisau-Initiative

Kirsten Siegl ist seit über 30 Jahren in der beruflichen Bildung tätig, insbesondere im sozialpädagogischen Bereich. Sie koordiniert eine Berufsfachschule für Sozialassistenz und hat an mehreren inklusiven, multilateralen Austauschprojekten teilgenommen. 
Valerie Siegl ist Referendarin für Englisch und Geschichte und arbeitet an einer Gesamtschule, wo sie Erfahrungen mit inklusiven Klassen sammeln konnte. Beide haben an Austauschprojekten teilgenommen, insbesondere in den polnischen Begegnungsstätten Krzyżowa (Kreisau) und Morawa (Muhrau), und setzen sich für den interkulturellen Austausch sowie für Begegnungen zwischen Menschen mit und ohne besonderem Förderbedarf ein.

Warum lohnt es sich, sich für den inklusiven, internationalen Austausch zu engagieren?

Für Kirsten und Valerie liegt der Mehrwert solcher Programme auf der Hand: Austausch schafft Berührungspunkte, baut Vorurteile ab und erweitert den Horizont der Teilnehmenden. „Viele Jugendliche haben anfangs Berührungsängste gegenüber Menschen mit Beeinträchtigungen. Sie wissen oft nicht, wie sie mit ihnen umgehen sollen“, erklärt Kirsten. „Doch durch Austauschprojekte können diese Unsicherheiten abgebaut werden.“ Valerie betont, dass der internationale Austausch auch eine große persönliche Entwicklung der Schüler:innen fördert: „Viele trauen sich nach einer solchen Erfahrung mehr zu – sei es im sozialen Kontakt oder in ihrem beruflichen Werdegang.“

„Wenn man bei einer Teilnehmerin oder einem Teilnehmer etwas zum Klingen bringen kann - entweder im Kopf oder im Herz - hat man das Ziel erreicht. So ein Austausch ist eine riesige Chance, Dinge zu erleben, die man in keinem Unterricht und durch kein Lehrbuch lernt. Es geht darum, den Austausch echt und authentisch zu erleben.”

Beispiele für erfolgreiche Projekte

Ein besonders erfolgreiches Projekt fand in Kreisau im Rahmen des Programms „Brückenschlag“ der statt. Dort kamen deutsche, polnische und ukrainische Jugendliche mit und ohne Beeinträchtigungen zusammen und arbeiteten an kreativen Projekten in den Bereichen Theater, Musik, Medien und Tanz. Die gemeinsamen Aktivitäten halfen, Hemmschwellen zu überwinden und eine inklusive Gemeinschaft zu schaffen.

Sozialassistentinnen zu Gast in Polen

Ein weiteres Projekt in Morawa richtete sich an angehende Erzieher:innen, die durch den Austausch die Möglichkeit hatten, Einblicke in die inklusive Frühbildung zu erhalten. „

Die Schülerinnen und Schüler mussten sich in der Praxis mit Menschen mit Beeinträchtigungen auseinandersetzen – das war für viele eine völlig neue Erfahrung“, berichtet Kirsten.

Vor- und Nachbereitung: Wichtige Schritte für ein gelungenes Projekt

Die Vorbereitung eines Austauschprojekts umfasst verschiedene Aspekte: von der Einführung in die Kultur und Geschichte des Partnerlandes über die Sensibilisierung für den Umgang mit Beeinträchtigungen bis hin zur organisatorischen Planung. Vor der Begegnung bekommen die Schüler:innen erste Einblicke in das Zielland. „Es ist wichtig, die Jugendlichen frühzeitig abzuholen und ihnen Sicherheit zu geben.“

Auch die Nachbereitung spielt eine entscheidende Rolle. Die Schüler:innen reflektieren ihre Erfahrungen und berichten anderen davon. So bleibt die Wirkung des Austauschs nachhaltig bestehen.

Besonders wirksam sind Projekte, die praxisnahe Erlebnisse bieten. „Wenn wir mit den Jugendlichen Uno spielen oder jonglieren, merken sie gar nicht mehr, dass sie mit Menschen mit Beeinträchtigungen interagieren – es passiert ganz natürlich“, sagt Kirsten. „Das sind die Momente, in denen wirkliche Veränderung geschieht.“ Valerie ergänzt: „Die Schüler:innen merken, dass die vermeintlichen Unterschiede oft gar nicht so groß sind.“

Herausforderungen und Chancen im inklusiven Austausch

Eines der größten Hindernisse für Austauschprojekte an Förderschulen ist die Finanzierung. Viele Familien können sich die Teilnahme nicht leisten, weshalb Fördermittel essentiell sind. Hinzu kommt die Akzeptanz durch Schulleitungen: „Oft werden Austauschprogramme mit Klassenfahrten gleichgesetzt und abgelehnt, wenn nicht alle Schüler:innen teilnehmen können“, berichtet Kirsten. Auch organisatorisch stellen inklusive Austauschprojekte besondere Anforderungen: Es braucht barrierefreie Unterkünfte und Reiserouten sowie inklusive Programmgestaltung – oft ein zusätzlicher Planungsaufwand. Die Abstimmung mit Stundenplänen, Unterrichtsverpflichtungen und Begleitpersonen erfordert eine intensive Vorbereitung. Häufig ist zusätzliches pädagogisches Fachpersonal notwendig, um Teilnehmende individuell begleiten und unterstützen zu können.

Dennoch überwiegen die Chancen: Schüler:innen entwickeln interkulturelle und soziale Kompetenzen, knüpfen neue Freundschaften und werden mutiger im Umgang mit Unbekanntem. „Einige unserer Teilnehmenden haben später von sich aus internationale Projekte besucht – sie haben durch den Austausch neue Perspektiven für sich entdeckt“, erzählt Valerie.

Natürlich stellt die Teilnahme beeinträchtigter Jugendlicher auch besondere Anforderungen an die Projekte. Körperliche Einschränkungen, gesundheitliche Bedürfnisse oder ein anderes Tempo der Beteiligung bedeuten für die Organisation zusätzlichen Aufwand – doch das ist kein Sonderfall, sondern Teil der Realität diverser Gruppen. „Probleme gibt es bei jeder Begegnung – sie sehen nur anders aus“, betont Kirsten. Entscheidend sei der Umgang damit: Offenheit, Sensibilisierung und Fortbildung helfen, Unsicherheiten abzubauen und auf unterschiedliche Bedürfnisse vorbereitet zu sein.

Inklusion ist kein Nice-to-have, sondern ein Bildungsrecht. „Alle Jugendlichen haben das gleiche Recht auf Erlebnisse, die sie in ihrer Entwicklung stärken“, sagt Valerie. Manchmal liege die größere Herausforderung sogar auf Seiten der nicht-beeinträchtigten Teilnehmenden, etwa wenn sie mit ihrer eigenen Unsicherheit im Umgang mit Vielfalt konfrontiert sind – eine Erfahrung, die ihnen aber letztlich neue Perspektiven und Kompetenzen eröffnet.

Langfristige Auswirkungen auf die Schüler:innen

Die Effekte eines Austauschprogramms können langfristig das Leben der Schüler:innen beeinflussen. Viele entwickeln ein stärkeres Selbstbewusstsein und ein neues Verständnis für Inklusion. Kirsten erinnert sich besonders an eine Schülerin, die anfangs sehr zurückhaltend war: 

„Sie war total unsicher, wusste nicht, wie sie auf Menschen mit Beeinträchtigungen zugehen sollte. Nach dem Projekt sagte sie: ‚Ich habe gelernt, dass es nicht darum geht, ob jemand eine Beeinträchtigung hat, sondern dass wir alle einfach Menschen sind.‘“

Auch Valerie hebt hervor, dass sich die Teilnehmenden oft noch Jahre später an ihre Erfahrungen erinnern. „Es gibt Jugendliche, die sich nach der Begegnung für eine Laufbahn im sozialen Bereich entschieden haben. Sie sagen, dass diese Erfahrung für sie der entscheidende Moment war.“ Oft sind es die kleinen, alltäglichen Situationen während der Begegnungen, die einen bleibenden Eindruck hinterlassen: 

„Also diese Barrieren, die man im Kopf hat, die werden durch diese Austausche abgebaut. Das ist nicht gleich am ersten Tag und auch die Kennenlernspiele am Anfang sind nicht immer direkt beliebt. Aber das passiert ganz automatisch – und genauso ist es mit den Ängsten.“

Dabei geht es auch um die Erkenntnis, dass nicht nur Menschen mit Behinderung Einschränkungen erleben – sondern dass jede:r eigene Barrieren mitbringt. Valerie erzählt von einem eindrücklichen Moment:

„Ein taubstummer Teilnehmer wollte uns erklären, dass er nicht hören kann – und wir haben es nicht sofort verstanden. In dem Moment war er uns voraus, weil wir nicht in der Lage waren, mit seiner Kommunikationsform umzugehen.“

Ein anderes Beispiel: Ein mehrfach körperlich behinderter Junge stellte sich ins Fußballtor – eine Rolle, die ihm vorher niemand zugetraut hätte. Solche Erlebnisse hinterfragen eingefahrene Rollenbilder und schaffen Raum für neue Sichtweisen.

Ein Austausch kann Schüler:innen helfen, ihre Perspektiven zu erweitern und sich selbst in einem neuen Licht zu sehen. „Das Selbstbewusstsein deiner Schülerinnen und Schüler wird gestärkt, viele wachsen über sich hinaus. Sie sind in einem ganz anderen Umfeld und das hilft auch, die eigene Position, die eigenen Erfahrungen zu reflektieren. Dadurch ändert sich das Selbstbild und sie entwickeln auch eine gewisse Sensibilität: Sie bekommen ein Verständnis dafür, dass Menschen Einschränkungen haben, oder dass sie eine andere Kultur und andere Traditionen haben. Und das lernen sie zu respektieren und damit umzugehen.“

Wie kann der inklusive Austausch weiter ausgebaut werden?

Um mehr Schüler:innen mit Förderbedarf die Teilnahme an Austauschprojekten zu ermöglichen, wären vor allem eine bessere finanzielle Unterstützung sowie gezielte Schulungen für Lehrkräfte und Schüler:innen notwendig. Auch die Vernetzung zwischen Schulen und Partnerorganisationen könnte intensiviert werden.

Ein Ansatz, der bereits erfolgreich umgesetzt wurde, ist die Zusammenarbeit mit Jugendwerken wie dem Deutsch-Polnischen Jugendwerk. Diese Organisationen bieten Fördermöglichkeiten und strukturelle Unterstützung. „Es ist wichtig, bestehende Programme zu nutzen und weiterzuentwickeln, um Austausch für alle zugänglich zu machen“, betont Kirsten.

Darüber hinaus könnten regionale Förderungen, Stiftungen, Unternehmen vor Ort oder lokale Sponsor:innen gezielt angesprochen werden, um zusätzliche Mittel bereitzustellen. Auch Kooperationen zwischen mehreren Schulen bieten Potenzial: Wenn sich beispielsweise eine Förderschule mit einer weiterführenden Schule zusammenschließt, können Ressourcen gebündelt werden – sei es in Form von Personal, Know-how oder Sachmitteln. Solche Allianzen ermöglichen Synergieeffekte und entlasten einzelne Schulen bei der Umsetzung. Um Austausch wirklich inklusiv zu gestalten, braucht es flexible Modelle, verlässliche Partnerschaften – und die Unterstützung aus vielen Richtungen.

Internationale Projekte bieten Schüler:innen mit Förderbedarf eine einzigartige Chance zur persönlichen und sozialen Entwicklung. Trotz organisatorischer und finanzieller Herausforderungen überwiegen die positiven Effekte: 

„Austausch öffnet Türen – nicht nur zu anderen Ländern, sondern auch zu neuen Perspektiven auf das eigene Leben“, 

fasst Valerie zusammen.

 
Vielen Dank für das Gespräch!

Das Gespräch führte Ruth Rothermundt.

Veröffentlicht am: 10.06.2025